„Verkaufen! Zu weit abgelegen, zu alt. Du wirst sehen, das ist ein Fass ohne Boden, immerzu reparaturanfällig!“, sagte der Rest der Familie.Sie aber hatte sich in dieses Haus verliebt, das ihr ihre Tante vererbt hatte, und behielt es.
Schon in ihren Kindertagen war sie gerne hier zu Besuch gewesen. Das Haus hatte etwas Geheimnisvolles, und der verwunschene Garten war ihr kleines Paradies. Ihre Tante hatte ihn sorgsam gepflegt, obwohl man es diesem Naturgarten nicht auf den ersten Blick ansah. Ob sie das auch schaffen würde? Da sollte sie sich wohl besser um professionelle Hilfe kümmern, zumal sie ja nicht mehr taufrisch war, milde ausgedrückt.
Auch hatte sie wieder intensiv damit begonnen, zu malen und zu dichten, seit ihr Mann vor zehn Jahren gestorben war. Ihre Kinder waren erwachsen, lebten ihr eigenes Leben. Sie hatte endlich die Zeit dazu, hier in der Stille ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen, den sie früher wegen ihrer Familie nur als Hobby ab und zu pflegen konnte.
Jutta hatte sich zwar lange Zeit inständig darum bemüht, sie zu verkuppeln. Aber sie konnte ihre Freundin davon überzeugen, dass sie nach Svens Tod auch sehr gut alleine zu leben verstand. Jutta nannte sie deshalb einen hoffnungslosen Fall und hatte ihr prophezeit, sie würde hier in ihrem Hexenhaus alt und einsam sterben. Doch das konnte sie nicht erschrecken.
Einsam zu sterben, war das nicht das Los vieler Menschen? Sie erinnerte sich noch gut daran, dass ihr Vater ganz allein im Krankenhaus gestorben war; man hatte die Familie erst am nächsten Tag von seinem „Ableben“(so sagte man es am Telefon) unterrichtet. Nicht jedem war es vergönnt, einen lieben Menschen auch beim Sterben an seiner Seite zu wissen. Diese Szenen, in denen der Sterbende sich von dem Kreis seiner Lieben verabschiedet und fast majestätisch ruhig in die andere Welt hinüber gleitet, sie waren lange schon Geschichte und bestenfalls noch in Filmen zu sehen. Die Wirklichkeit war anders, brutal!Im Augenblick des Todes war man allein.
Zu dieser Erkenntnis war sie gekommen, nachdem sie ihren Mann an jenem Morgen vor zehn Jahren tot neben sich im Bett vorgefunden hatte. Ein schöner Tod für Sven, wie die meisten behaupteten, die davon erfuhren. Sie hingegen war völlig fassungslos. Kein Abschied, kein Hinweis, der Tod hatte ihn einfach im wahrsten Sinn des Wortes von ihrer Seite weggerissen, Herzinfarkt! Und sie hatte nichts gespürt. Wie ein Blatt, das leicht und unbemerkt vom Baum fällt, war er einsam neben ihr gestorben. Am Abend zuvor hatten sie noch Urlaubspläne geschmiedet, als sei ihnen alle Zeit der Welt gegeben.
Wie erstaunt wir Menschen doch immer sind, wenn der Tod in unser Leben tritt, so als hätten wir das ewige Leben auf Erden gepachtet. Aber man muss ihn ja auch verdrängen, um genug Kraft für das Leben zu haben, das uns schon genug Zugeständnisse abverlangt.
Sie hatte nach Svens Tod, damit begonnen, bewusster zu leben. Das Lachen eines Kindes, eine Blume, ein Vogel, ein Wolkenbild am Himmel, die Natur, alles Leben hatte für sie an Bedeutung gewonnen. Obwohl als Malerin schon immer mit wachem Blick allem zugewandt, sah sie ihre Umgebung auf eine neue Weise. Sie fühlte sich mit allem verschwistert in der Vergänglichkeit, wollte den Augenblick der Schönheit des Lebens erkennen, erfühlen, festhalten, in Farbe auf die Leinwand bannen oder im Gedicht erklingen lassen. Poesie war ihr Schlüssel zum täglichen Paradies.Und dazu gehörte auch, dass sie dieses alte Haus und seine Geschichte bewahren musste. Gegen die Vergänglichkeit und das Vergessen angehen durch Malen und Schreiben. Sich nicht damit abfinden, dass der Tod das persönliche Leben und der Bagger dieses alte Haus wegräumte. Natürlich galt es auch, immer wieder dem neuen Leben Platz zu machen .Der Kreislauf des Lebens war ihr vertraut. Sie wusste, dass ihre Gene in ihren Kindern weiterlebten. Aber sie wollte, dass auch das Unteilbare, Eigenständige, Persönliche noch Raum hatte, Seele, Geist, wie auch immer man es nennen mochte. Hier in diesem Haus lebte ihre Tante weiter. Der Apfelbaum ,die Kräuterschnecke, alle Pflanzen des Gartens erinnerten an ihr Wirken.
Sie würde nun alles hegen, ihr eigenes Leben damit verknüpfen, in Bildern und Gedichten bewahren als einen Schatz ihres persönlichen Lebens.Und wer weiß, vielleicht würde ihn ja eines Tages eines der Enkelkinder heben und bergen.
Ingrid Drewing