Der verbotene Luftballon
Es ist praktisch, eine große Familie zu haben. Das fühlte ich bereits in den Wirren der Kriegs-und Nachkriegszeit, als ich noch ein kleines Kind war. Fünfmal waren wir ausgebombt worden, wie meine Mutter mir erzählte, denn an die Bomben kann ich mich zum Glück nicht erinnern. Nach diesen Angriffen rückten die Verwandten zusammen; bei irgendeinem kam man immer unter. Auch gab es dadurch genügend Ansprechpartner, sodass man sich nie allein fühlte.
Als mein Onkel Gottfried 1947 aus dem Krieg zurückkehrte und bei uns wohnte, freuten wir Kinder uns sehr. Ihm war die Flucht aus einem französischen Gefangenenlager gelungen und nachdem er über den Rhein geschwommen war, hatte er wohlbehalten die amerikanische Besatzungszone erreicht. Da er sehr jung war (man hatte ihn mit knapp 18 Jahren als Sanitäter in Rommels Korps nach Afrika geschickt) hatte er keine Entnazifizierungsprobleme. Er durfte bei den Amerikanern in der Küche des Hospitals arbeiten und erhielt ein Jahr später sogar eine Anstellung als Krankenpfleger.
Für uns Kinder war Onkels Job vorteilhaft; brachte er uns doch hin und wieder etwas Leckeres zu essen mit. Die kleinen, braunen Täfelchen wurden für mich zum Inbegriff guter Schokolade, da ich ja zuvor nie welche gegessen hatte.In einer Zeit, in der es auch kaum Spielzeug gab, freuten wir uns deshalb riesig, als mein Onkel, der sparsam war und viel Sinn fürs Praktische hatte, uns eines Tages leichte, weiße Luftballons mitbrachte,diese aufblies und sie uns zum Spielen überließ, ein Ballersatz für uns. Wir warfen sie begeistert hoch in die Luft und spielten so eine Art Volleyball damit. Allerdings fiel ein Schatten auf unsere Spielfreude, denn Mutter erlaubte uns nicht, auch nur für kurze Zeit, damit im Freien zu spielen. So durften wir nur im Flur damit herumballern.
Das Haus, in dem wir wohnten, hätte einem Hitchcock-Film alle Ehre gemacht.Es stand wie senkrecht abrasiert da, nur noch zur Hälfte erhalten; allerdings mit einem vorhandenen Treppenhaus, dessen eine Seite jedoch vom vierten Stock abwärts im Freien hing und den Blick auf das Trümmergrundstück freigab, wo die Überreste der anderen Haushälfte lagen.Die Bewohner des Hauses waren recht bunt gemischt; einzustufen von höchst ehrenwert bis äußerst fragwürdig. So wohnten auch einige Damen dort, die ein lukratives Geschäft mit der Fraternisierung betrieben; die GIs flatterten ein und aus. Wir als Kinder hatten keine Ahnung davon. Dafür sorgte schon unsere Mutter, denn bei schlechtem Wetter spielten wir in der Wohnung und wenn es schön war, ging es in den Schrebergarten, der damals für uns auch eine wichtige Nahrungsquelle war.
Nachdem meine Geschwister und ich ein paar Tage mit den Luftballons Sport im Flur getrieben hatten, gingen die Ballons kaputt. Und leider konnte unser Onkel auch keine neuen mehr mitbringen, warum auch immer.Wie froh war ich da, als ich gleich zwei dieser Luftballonhüllen im Sandkasten des Vorgartens entdeckte. Als ich gerade einen in der Hand hielt, um ihn aufzupusten, kam meine Mutter, die sich gerade noch vor der Haustür mit einer Nachbarin unterhalten hatte, wie von Furien getrieben , und schlug mir mein vermeintliches Spielzeug aus der Hand.„ Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht alles aufheben und in den Mund nehmen sollst!“, schalt sie mich und führte mich weg. Zur Nachbarin gewandt, die ihr beipflichtete, sagte sie: „Das ist eine Zumutung, was die so alles aus dem Fenster werfen!“ ,womit das „Damentrio „ gemeint war.
Damals verstand ich den tiefen Grund der Empörung meiner Mutter nicht, die aus Ekel und Furcht vor schlimmer Erkrankung ihres Kindes so ausgerastet war .Ich wusste nur sehr genau seitdem, dass ich nichts Verschmutztes von der Straße aufheben durfte.
Drei Wochen später schenkte uns Onkel Gottfried einen großen, roten Gummiball, und unsere Kinderwelt war wieder in Ordnung.
Ingrid Drewing
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