Seltsame Überraschung an Heiligabend

Von allen Festen des Jahres ist auch für mich Weihnachten das schönste; das ist seit meiner Kindheit so.Obwohl wir, im Gegensatz zu Kindern von heute, in der Nachkriegszeit wenig an Geschenken zu erwarten hatten, war Heiligabend immer etwas Besonderes.Wir freuten uns, im Kreise der Familie vor dem strahlenden Lichterbaum zu stehen, gemeinsam zu singen und zu schauen, ob wieder eine neue Kugel, ein Glöckchen oder ein Glasvögelchen zu sehen war, das das Christkind uns gebracht hatte, was wir andächtig bewunderten.Die Großen wussten natürlich, dass wir das dem Christkind in Gestalt unseres Vaters zu verdanken hatten, dessen Domäne der Weihnachtsbaum war.Er sparte das ganze Jahr über,um eine kleine Kostbarkeit auf dem Weihnachtsmarkt zu erwerben, die neben den aus Papier geflochtenen, bemalten Sternen die Schönheit des Christbaumes bereicherte.
Weihnachten war bei uns auch immer das Fest der Großfamilie. Da einige der Onkel und Tanten noch keine Kinder hatten und meine Mutter das Herz ihrer Familie war( sie hatte nach dem Tod ihrer Mutter quasi ihre jüngeren Geschwister groß gezogen), feierten sie alle das Fest mit uns.Sie gaben auch dem Christkind schon einmal ein schönes Geschenk für uns mit. Beschert wurde immer erst, wenn alle erwarteten Verwandten da waren.
Das war für uns Kinder stets sehr aufregend, da einige recht spät von der Arbeit kamen; so auch Herta, meine Patentante und jüngste Schwester meiner Mutter, von allen nur Hertelchen genannt.
Sie war die liebste Tante der Welt, gütig und liebevoll.Nie hörten wir ein böses Wort von ihr. Für mich war sie wie eine zweite Mutter. Nachdem sie ihr sechs Monate altes Töchterchen Ursula durch eine schwere Krankheit im Krieg ein halbes Jahr vor meiner Geburt verloren hatte, schenkte sie mir all ihre Liebe.
Meistens kam sie an Heiligabend als letzte. Wenn sie da war, konnte die Bescherung endlich beginnen.

Wolfi, mein kleiner Bruder,hatte vor Aufregung rote Wangen und konnte die Spannung kaum ertragen. Immer wieder spähte er durchs Schlüsselloch ins Weihnachtszimmer, versicherte, er habe das Christkind hin-und herschweben gesehen und gehört, dass ein Glöckchen geläutet habe. Wir müssten nun endlich zum Weihnachtsbaum gehen.Mutter beruhigte ihn dann, so gut es ging, und wir vertrieben uns die Wartezeit, indem wir die Lieder und Gedichte, die wir vortragen wollten,noch einmal übten.Ich spielte Blockflöte, lauerte aber insgeheim,ob ich nicht Hertelchens Schritte oder das Klingeln an der Wohnungstür hörte. Denn wenn sie eintraf, das lehrte die Erfahrung, ließ auch das Christkind nicht mehr lange auf sich warten.
So war es auch an Heiligabend 1951. Endlich läutete es an der Wohnungstür.Ich stürmte vor, um die geliebte Tante zu empfangen, öffnete freudig die Tür,blieb aber plötzlich, wie zur Salzsäule erstarrt, stehen.Blass vor Schreck musste ich die Umarmung, besser gesagt Umpfotung, einer riesigen, gelbbraunen Dogge ertragen. Sie hatte die Vorderbeine über meine Schultern gelegt und leckte mich mit ihrer langen Zunge im ganzen Gesicht ab.Was das Tier wohl als Liebesbeweis ansah, war für mich ein Schock;statt meine geliebte Tante zu herzen, war ich diesem tierischen Überfall ausgesetzt.Zum Glück war diese Dogge ansonsten ungefährlich und gehorchte schnell wieder ihrem Herrn, der sie zur Räson rief.
Dieser Mann war ein Uhrmacher, der Vater, wie versprochen, noch schnell eine reparierte Armbanduhr, das Weihnachtsgeschenk für Mutter,vorbeibrachte. Vater war erleichtert, dass er endlich noch gekommen war. Auch ich erholte mich schnell wieder von der unheimlichen Überraschung, als die erwartete, liebe Tante kam und wir alle gemeinsam einen wunderschönen Heiligabend feierten.
Dennoch muss ich heute manchmal noch an dieses Erlebnis denken, wenn ich eine Dogge sehe, und wechsle dann die Straßenseite.

© Ingrid Herta Drewing


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