Endlich Frühling! Wie habe ich auch als Kind immer diese Jahreszeit herbeigesehnt. Je länger die Tage wurden, desto länger durften wir im Freien spielen. Und das war wohltuend, lebten wir doch in der Nachkriegszeit wegen der Wohnungsnot noch recht eingepfercht.
Endlich die Freiheit genießen! Die Straße, gesäumt von Trümmergrundstücken, war unser Spielplatz. Oft spielten wir, wenn sich ein Ball fand, mit über dreißig Kindern mitten auf der Straße Völkerball. Denn Autos fuhren da kaum. Es gab in der Gegend nur einen alten DKW, der dem Spengler aus der Nachbarschaft gehörte.Aber dieses Auto röhrte so laut, dass wir es schon von weitem hören konnten, und außerdem tuckerte es recht langsam.
Obwohl ich als Mädchen, dem damaligen Rollenmuster entsprechend, zu Hause mit meiner Puppe spielen oder bei der Hausarbeit helfen sollte , wie das andere Mädchen aus unserer Straße auch meistens taten, tobte ich lieber draußen mit meinen Brüdern herum und riskierte es, als „ Gassenkind „ zu gelten.
Mir war schon früh aufgefallen, dass Jungen viel mehr Spielraum hatten und Spannenderes als Mädchen machen durften. Während ich meinen verhassten dunkelblauen Faltenrock, den ich sonntags zu tragen hatte, immer artig ausbürstete, konnten meine Brüder ihre schmutzigen Hände an ihrer Lederhose abputzen, weil die ja dann noch zünftiger aussah.
Zum Glück ließen mich meine Eltern ansonsten gewähren; wahrscheinlich im eigenen Interesse, um in Ruhe arbeiten zu können.
Wie ein Junge gekleidet, ich trug beim Spielen die Lederhose, die meinem älteren Bruder nicht mehr passte, und mit kurz geschnittenem Haar fühlte ich mich im Alter von zehn Jahren fast wie ein Junge.
Da ich auch hart im Nehmen war, ich fing beim Ballspiel auch die „hart gebolzten“ Bälle, akzeptierten mich die Jungs auf der Straße wie einen Kumpel und ließen mich mitspielen.
Unsere Spiele veränderten sich mit dem zeitlichen Abstand zum Kriegsende. Spielten wir anfangs noch „Der Kaiser schickt seine Soldaten aus“ oder „Deutschland erklärt den Krieg gegen…“, wobei es um Landgewinn ging, so wurden die Spiele allmählich friedlicher. Die Mädchen entwickelten eine Vorliebe für Seilhüpfen und Hickeln, die Jungen bevorzugten Mannschaftsspiele aller Art.
Ein Spiel gefiel aber allen im Frühling, das Murmelspiel. Waren es zunächst noch angemalte Tonklicker, die es in schillernden Farben gab( sogar mit Silber- und Goldschimmer), so kamen nach und nach auch wunderschöne Glasmurmeln ins Spiel.
Da wir vier Kinder waren und meine Eltern hart arbeiten mussten, um die Existenz der Familie zu sichern, konnte ich für solche Kinkerlitzchen kein Geld erwarten. Aber ich war geschickt im Klickerspiel und kam auch so zu den begehrten Glaskugeln.
Für das Murmelspiel drehten wir, wenn wir kein schon vorhandenes Klickerloch fanden, meistens mit dem Absatz unseres Schuhs ein neues in den Lehmboden. Dann stellten sich die Spieler in einem Abstand von 3 bis 4 Metern davor auf und warfen ihre Murmeln in Richtung Loch. Der Reihe nach durfte man dann versuchen, die Klicker oder Glaskugeln ins Loch zu knipsen. So lange man traf, war man am Zug. Wer die letzte Kugel ins Loch schoss, dem gehörte der gesamte Inhalt. Oft waren es die besser betuchten Einzelkinder, die gleich mit einem ganzen Sack neu gekaufter Glaskugeln anrückten und dann natürlich auch mitspielen wollten. Sie tauschten dann schon gern einmal eine Glaskugel gegen drei Tonkugeln ein. Und manchmal verloren sie dann im Spiel den größten Teil ihres Schatzes. So wurde auch ich stolze Besitzerin von einigen Glaskugeln, die ich dann abends, wenn ich nachhause kam, wusch, blank rieb und sorgsam nach Größe und Farbe sortierte. Da gab es die „Röschen“,mit einem in durchsichtiges Glas eingeschlossenen Blümchen in Rot, Gelb oder Blau, die „Farbschlangen“, die „Bullas“, die fünf kleine Murmeln wert waren, und die „Regenbogenkugeln“ in ihren schillernden Farben. Ein wahrer Schatz für einen passionierten Murmelspieler.
Ich liebte das Murmelspiel, das ich sehr gut beherrschte und vergaß beim Spielen schon einmal die Zeit, was mich einmal in Schwierigkeiten brachte.
Damals hatten wir auch samstags Schulunterricht, und ich kam dann immer so um 13.30 Uhr heim.
An einem strahlenden Samstag im Frühling traf ich auf meinem langen Heimweg( wir fuhren damals nicht mit dem Bus zur Schule) fast in jeder Straße auf Kinder,
die Murmeln spielten, und ich konnte es mir nicht verkneifen, da mitzumachen, zumal ich drei Glaskugeln in der Tasche hatte. An diesem Tag war mir das Spielerglück hold. Ich gewann unaufhörlich, und ich hatte über 100 Glaskugeln in meiner Jackentasche, als ich nach Hause kam.
Ein siegreicher, römischer Feldherr kann wohl kaum mehr Stolz und Freude empfunden haben bei seinem Triumphmarsch in Rom. Doch dieses Glücksgefühl über meinen Beutezug währte nicht lange. Da gab es nämlich weder Jubel noch Lob.
Stattdessen empfing mich meine Mutter mit einer ungewohnt eisigen Miene und schimpfte: “Mein liebes Mädchen, was fällt dir ein, so spät nachhause zu kommen, zwei Stunden zu spät bist du! Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht, wo warst du?“
Als ich erklärte, dass ich beim Murmelspiel wegen meiner Glückssträhne die Zeit vergessen hätte, und, um Verständnis heischend, meinen Schatz an Glaskugeln präsentierte, riss meiner Mutter der Geduldsfaden, und sie verdonnerte mich zu vierzehn Tagen Hausarrest. Nicht raus zu dürfen, das war damals die schlimmste Strafe für mich. Aber ich sah ein, dass ich mich falsch verhalten hatte.
Die Strafe wurde vollzogen und obwohl ich sehr gerne Bücher las, wofür ich dann ausgiebig Zeit hatte, war es hart für mich, bei dem schönen Wetter nicht mit den anderen Kindern im Freien spielen zu dürfen.
Dennoch war das für mich eine wirkungsvolle Erfahrung , und ich hielt mich fortan an die zeitlichen Abmachungen, was besonders später in der Pubertät nicht immer leicht war, wenn die anderen nach dem Jugendabend noch länger an der Litfasssäule miteinander plauschten, während ich gehen musste, um pünktlich zu Hause zu sein.
Aber rückblickend bin ich meiner Mutter für ihre konsequente Erziehung dankbar, zumal ich, selbst heute Mutter von vier Kindern, weiß, wie schwer es auch für Eltern ist, konsequent zu sein.
Ingrid Herta Drewing