Alibi-Tage

Der Tag des Kindes, Tag des Kusses,
der Tag der Arbeit, Muttertag
birgt oft den Anlass des Verdrusses
für den, der Alibis nicht mag.

Was man im Jahr zu wenig schätzt,
wird einmal kurz ins Bild gehoben
und wiederum in Schlaf versetzt,
Dornröschens Fluch, nur mild verwoben.

Genötigt fühlen sich da viele:
„Oh, Gott, es ist ja Muttertag!
Noch schnell paar Blümchen für Cäcilie,
weil sie uns heut’ erwarten mag!“

Kurz der Besuch bei den Senioren.
Das Heim wird heut’ zum Blumenhaus;
doch manche Mutter schaut verloren
dort aus dem kleinen Fenster raus.

Wir haben uns so eingerichtet,
dass uns die Zeit zu lieben fehlt,
gehetzt, verplant; so wird vernichtet,
was wesentlich zum Menschsein zählt.

© Ingrid Herta Drewing

Gestundetes Leben

Er sparte seine Tage für ein Morgen,
das er sich auserkoren, fernes Glück.
Es sollte ihm einst winken, wenn die Sorgen
des Alltags lägen lange schon zurück.

Im Ruhestand wollte er alles wagen;
er schob sein Hobby, Urlaub, Schönes auf;
auch familiär musst’ er sich viel versagen,
ehrgeizig nahm er da Distanz in Kauf.

Seit einem Monat war er jetzt in Rente
und wollte nun sein Leben kosten aus.
Jedoch nichts ward aus Freuden und Talenten.
Man fand ihn gestern tot in seinem Haus.

© Ingrid Herta Drewing