Das Blatt
Am Baume hing ein letztes Blatt,
sanft schaukelnd in den Zweigen.
Obwohl Wind wild gewirbelt hat,
verschmähte es den Reigen,
der hoch hinauf in Lüfte fand
und letztlich doch in Tiefen schwand,
in welken Todes Schweigen.
Es konnte sich noch halten dort,
allein in Sturm und Regen;
hier lebend am gewohnten Ort.
Zwar war nicht mehr zugegen
das Laub, das es so warm gehegt,
in seiner Mitte zart bewegt,
das war für immer fort.
Wie tapfer blieb das kleine Blatt,
ertrug des Frostes Beißen,
den Nebel; auch den Raureif glatt
versucht‘ es abzuweisen!
Doch als der erste Schnee dann fiel,
sah es sich wohl beglückt am Ziel
und ging beherzt auf Reisen.
Mit tausend Sternchen schwebt’s zur Erde
im Tanz der Flocken aus der Höh‘.
Nun schläft es, bis es Frühling werde,
den langen Traum im weichen Schnee.
© Ingrid Herta Drewing,2013